Neue Demokratieform in der Altstadt

Ein Lagerverwalter, eine Hausfrau, eine Hilfsarbeiterin, ein Kunststudent und eine Rentnerin sitzen über einem Ausschnitt des Kölner Stadtplanes. Er zeigt die Umgebung des Historischen Rathauses in der Altstadt. Den fünf Bürgerinnen und Bürgern stehen auf einem Kartentisch Bauklötze in verschiedenen Farben zur Verfügung. Damit können sie für die Bebauung und Nutzung des Planungsbereiches Köln/Gürzenich eigene Vorschläge machen. An derselben Aufgabe arbeiten weitere 49 Kleingruppen. So sah es aus, als die Stadt 1979 ein neues Planungsmodell erprobte: die Beteiligung von zufällig gelosten Bürger:innen an der Entwicklung ihrer Stadt.

Im Zweiten Weltkrieg war die Kölner Innenstadt durch Bomben zerstört worden. Größere Flächen im Bereich Rathaus/Gürzenich blieben bis in die 70er Jahre unbebaut. Diese freien Flächen wurden nur behelfsmäßig gestaltet und meist als Parkplätze genutzt. 1978 begann die Planung für die Wiederbebauung und Nutzung des Rathausplatzes.

Unklarheit über Quartiersentwicklung

In der ersten Phase boten die prämierten Entwürfe der Architekt:innen zur Entwicklung des Quartiers unterschiedliche Lösungen an. Eine eindeutige Richtung ergab sich hierdurch allerdings nicht. In einer zweiten Planungsphase 1979 beschloss der Stadtrat deshalb, die Meinung der Bürger:innen einzuholen. 250 zufällig ausgeloste Einwohner:innen der Stadt sollten über die Anordnung freier und überbauter Flächen, Verkehrsfragen, sowie Wohnen und andere Nutzungsarten im Bereich Rathaus/Gürzenich beraten.

Für insgesamt zehn so genannte Planungszellen wurden jeweils 25 Erwachsene aus zehn Bereichen der gesamten Stadt nach dem Zufallsverfahren aus dem Einwohnermelderegister ausgelost. Alle Altersgruppen zwischen 18 und 67 Jahren waren vertreten. Frauen und Männer saßen zu gleichen Anteilen in den Planungszellen. Teilnehmen konnten alle Kölner:innen, die entweder die deutsche Staatsbürgerschaft hatten oder mindestens vier Jahre im deutschen Sprachraum lebten. Für ihre Teilnahme an den auf vier Tage aufgeteilten Sitzungen erhielten die Ausgelosten eine Vergütung von 240 D-Mark.

Großes Beteiligungsinteresse

Insgesamt hatten die Stadt 1.500 Einladungen verschickt. Von diesen kamen aufgrund eines nicht aktuellen Datenbestandes der Stadt allerdings 193 als „nicht zustellbar“ zurück. Von den 1.307 erreichten Ausgelosten meldeten sich 44,7 Prozent mit der der Einladung beigelegten Postkarte zurück. In den zehn Stadtteilen bekundeten zwischen 25,8 und 44,7 Prozent der Antwortenden Interesse an einer Teilnahme an den Planungszellen.

Während der Sitzungen der Losversammlungen erhielten die Teilnehmenden von Expert:innen Informationen zur Geschichte des Planungsbereichs sowie zu den Themen Infrastruktur, Rathaus-Nutzung und Verkehr. Zudem fanden vor Ort Begehungen statt. Etwa die Hälfte der Zeit diente dieser Art der Information. In der verbleibenden Zeit wurden die erworbenen Kenntnisse von den Bürger:innen in interaktiven Prozessen verarbeitet.

Bürgergutachten fasst Ergebnisse zusammen

Die Ergebnisse der Arbeit der Teilnehmenden wurden in einem Bürgergutachten zusammengefasst. Wichtige Punkte:

  • Bei der Nutzung des Planungsgebietes sollte die Wohnfunktion im Vordergrund stehen
  • Im Gesamtplanungsgebiet soll ein kulturell genutzter Innenstadtbereich entstehen
  • Verwaltung und Büros sind an die letzte Stelle möglicher Nutzungen zu setzen
  • Das Gelände des Rathausplatzes ist zu vergrößern. Die von Bebauung freizuhaltende Fläche ist vorrangig für kulturelle Zwecke zu nutzen.
  • Das Planungsgebiet sollte vorrangig als Fußgängerbereich gestaltet werden.

Das Bürgergutachten dokumentiert auf 124 Seiten die von den beteiligten Einwohner:innen erarbeiteten Empfehlungen. Auffallend waren die Abweichungen der Vorschläge zur Flächennutzung durch die Architekt:innen auf der einen und die Bürger:innen auf der anderen Seite. Während die Architekt:innen für die Wohnnutzung nur einen Anteil von 19,4 Prozent vorschlugen, empfahlen die Planungszellen-Teilnehmenden einen Anteil von 48,7 Prozent. Die Bürger:innen wollten der Verwaltungsnutzung nur einen Anteil von 6,2 Prozent einräumen, die Architekt:innen hingegen 35,5 Prozent.

NutzungsfunktionArchitekt:innenBürger:innen
Wohnen19,40%48,70%
Kultur22,60%21,40%
Einzelhandel/Gastronomie22,60%24,70%
Verwaltung35,50%6,20%

Die Verwaltung empfahl dem Stadtrat, den 21 Empfehlungen der Planungszellen-Teilnehmenden weitgehend zu folgen. Lediglich bei der Gestaltung des Rathausplatzes empfahl sie statt einer Offenhaltung eine schmale Randbebauung „zwecks Herstellung des alten internen Rathausplatzes an der Laube“. Im Stadtentwicklungsausschuss des Rates setzte sich am Ende jedoch der Vorschlag der Bürger:innen durch.

Vorausgegangene Planung „auf den Kopf gestellt“

„Auswärtige Beobachter sprechen davon, dass die vorausgegangene Planung durch das Bürgergutachten ‚auf den Kopf gestellt‘ wurde“, schreibt Prof. Peter C. Dienel in seinem Buch „Bürger planen das Rathausviertel“ über das Beteiligungsverfahren in Köln. Prof. Dienel war als Leiter der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Planungsverfahren an der Gesamthochschule Wuppertal Impulsgeber des Kölner Beteiligungsverfahrens. Das Konzept der Planungszelle war in den 70er Jahren von ihm entwickelt worden. Die praktische Durchführung des Kölner Verfahrens lag in den Händen der Forschungsstelle.

Für den Erfolg des Losverfahrens dürfte auch die „Vertretung Bürgergutachten Rathaus/Gürzenich“ mitverantwortlich gewesen sein. Die Mitglieder der zehn Planungszellen hatten aus ihren Reihen Mitglieder bestimmt, die im Interesse der erarbeiteten Ergebnisse deren weiteren Weg begleiten sollten. Die Gruppe trat danach mehrfach an den Stadtrat heran, um die Umsetzung des Bürgergutachtens abzusichern. Die Verwaltung sah diesen Einsatz positiv. Es sei damit „nachgewiesen, dass die Planungszelle Engagement weckt“. Mitglieder des Stadtrates hatten „das Engagement der am Bürgergutachten Beteiligten mit Freude beobachtet“.

Planungszelle vermeidet Beteiligungsmängel

Die positive Haltung der Verwaltung zum Verfahren der Planungszelle begründet sich lt. Prof. Dienel damit, dass die Stadt Mängel in ihren routinemäßig angewandten Verfahren der Bürgerbeteiligung entdeckt habe. Diese hätten sich z.B. in der nicht ausreichenden Information der Bürger:innen, in zu knapper Diskussionszeit, in bereits vorab getroffenen Einzelentscheidungen sowie in der Argumentationsweise der Verwaltungsmitarbeiter:innen gezeigt. Die Planungszelle habe diese Mängel vermieden.

„Das Experiment des Einsatzes des Planungszellenverfahrens unter großstädtischen Bedingungen in Köln ist im Ganzen positiv verlaufen“, resümierte Dr. Rüdiger Göb, seinerzeit Beigeordneter der Stadt Köln, in einem Artikel für das Buch von Prof. Dienel. Durch das Verfahren könne Betroffenheit und Engagement für Fragen ausgelöst werden, die nicht unmittelbar Betroffenheit weckten. „Das Planungszellenverfahren ist geeignet, über Bürgerkritik hinaus zu konstruktiver Aufarbeitung des Planungsproblems und zu Lösungsvorschlägen zu führen“, so Göb weiter.

Besonders geeignete Form bürgerlicher Mitbestimmung“

Die Intensität und die sachlich orientierte Atmosphäre mache die Planungszelle zu einer besonders geeigneten Form echter bürgerlicher Mitbestimmung von Planungsentscheidungen vor allem dort, wo Planungsprobleme eine große Zahl von Bürger:innen beträfen. „Die Vorteile des Planungszellenverfahrens liegen mithin sowohl in planerischen wie in staatsbürgerlichen Qualitäten“, stellt Göb fest. Auch der Erfahrungsbericht der Stadt Köln zur Erarbeitung des Bürgergutachtens empfehle die weitere Anwendung des Planungszellenverfahrens.

Die von den Bürger:innen erarbeiteten Richtlinien gingen 1982 in die dritte Phase der Planungen als verbindliche Vorgaben in einen erneuten Architektenwettbewerb ein. Ein Architekt sagte daraufhin seine Mitarbeit ab: „Wofür habe ich eine jahrelange Ausbildung erhalten, wenn jetzt jeder planen und entscheiden kann.“ Diese Einzelmeinung hatte jedoch auf den weiteren Verlauf des Planungsverfahrens keine Auswirkung. Der Bereich Rathaus/Gürzenich wurde entsprechend den Vorschlägen des Bürgergutachtens gestaltet.

Mehr Informationen: Bürgergutachten Rathaus/Gürzenich – Köln